Die Freiheit zwischen den Stühlen oder: Um die Ecke schreiben

 

Susanne Weiss war bei einem meiner Zufallssalons zu Gast. Verzaubert hat mich ihre beseelte, humorvolle Art, ihre brillante Rhetorik, ihr Talent für Wortspiele und neue Worterfindungen. Ich dachte mir, diese Frau ist voller Geheimnisse. Was für ein glücklicher Zufall, sie kennenlernen zu dürfen. Dann hörten wir eine Weile nichts voneinander, bis sie mir einen genialen Newsletter über einen – für die meisten Deutschen – ziemlich kuriosen Geisteszustand weiterleitete: Aylyak. Aylyak ist für den Ottonormal-Einwohner von Plovdiv (meiner Heimatstadt, übrigens ca 8.000 Jahre alt und damit eine der ältesten Städte der Welt, außerdem Kulturhauptstadt Europas 2019) „not a big deal“. Also etwas vollkommen Normales, so wie das wabi sabi oder „ikegai“ für die Japaner. Eine gewisse Subtilität wohnt diesem Zustand inne. Aylyak ist Müßiggang, Genuss, Nichtstun, Flanieren, Geselligkeit, „die Fünfe gerade sein lassen“… Aylyak ist übrigens keine Tradition und kein Trend, es ist die Impfung, die die Plovdiver mit der Muttermilch bekommen. Man kann es nicht in Worte fassen, man muss es schlicht und ergreifend leben.

 

Foto © David Ausserhofer

 

Du hast Ethnologie studiert. Hatte das Auswirkungen auf Deinen späteren Beruf?

Oh, aber gewiss. In ihren besten Varianten ist die Ethnologie die Lehre von den Dingen, die wir in der eigenen Kultur nicht hätten erfinden können. Mit ein bisschen Abenteuerlust lässt man sich den Boden der Gewissheiten unter den Füßen wegziehen und erlernt den Perspektivwechsel in allen Farben und Formen – Demut und Respekt inklusive. „Selbstverständlichkeiten“ sind ein gefährliches Pflaster. Für Profischreiber ist eine Haltung dieser Art eigentlich unerlässlich: Es könnte ja alles auch ganz anders sein …

 

Für mich bist Du eine offene Enzyklopädie. Wie viele Bücher hast Du ungefähr gelesen?

Das kann ich beim besten Willen nicht sagen. Ich lese wirklich sehr viel (nicht alles freiwillig) und mit Leidenschaft. Ich lerne gern. Tausende bestimmt …

 

Deine 7 Lieblingsbücher (zur Zeit?) und warum?

Ivan Krastev und Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung (November 2019): Exzellente Analyse eines europäischen Selbstbetrugs.

César Rendueles: Kanaillenkapitalismus. Eine literarische Reise durch die Geschichte der freien Marktwirtschaft (Nov. 2018): Zeigt, wie man das Monster auch ohne zusammengebissene Zähne in die Knie zwingen kann.

Andreas Bähr, Peter Burschel, Jörg Trempler, Burkhardt Wolf: Untergang und neue Fahrt: Schiffbruch in der Neuzeit (Oktober 2020) Das Buch der Stunde. Und: Vier Wissenschaftler schreiben gut erzählte Information.

Edgar Wallace: Der viereckige Smaragd (… und alles, was mit „Dichte Nebelschwaden senkten sich über die Themse …“ beginnt.): Ein geradezu feministischer Krimi des Altmeisters der leichten Kriminalunterhaltung. Alle Guten und alle Bösen sind Frauen. Und das vor mehr als 100 Jahren!

Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners: Gespräche für Skeptiker (1998, 11. Aufl. 2016)

Die beste Immunisierung gegen Dogmen und Dogmatiker aller Art. (Heinz von Foerster [1911 bis 2002] war übrigens Physiker.)

Stanley Diamond: Kritik der Zivilisation (1974): Der Augenöffner schlechthin.

Flann O’Brian: The Third Policeman (The Complete Novels, 2007): Die ins Absurde kippelnde Satire des Iren ist ganz große Kunst.

 

Foto © David Ausserhofer

 

Hast Du ein Lieblingszitat?

Täglich ein anderes. Also nein.

 

Du hast unendlich viel über Wissenschaft geschrieben und schaffst es, trockenen und sperrigen Themen Witz und Charme einzuhauchen. Dein Schreibstil ist für mich die perfekte Balance zwischen poetischer Frivolität und wissenschaftlichem Anspruch. Ist das Schreiben Deine persönliche (Lebens)kunst oder mehr Dein Lieblingshandwerk?

Beides. Schreiben ist zuallererst Handwerk und eben nicht Talent, wie es der Geniekult der Romantik will. Wenn man dann den Weg findet, Fantasie und Handwerk glücklich zu vereinen, kann das Schreiben zur Lebenskunst werden. Was hierbei unbedingt hilft, ist der Geisteszustand, der in Deiner Heimatstadt kultiviert wird – Aylyak.

 

Wie vermittelt man am besten Wissen?

Vor allem mit Respekt vor dem Publikum. Alles andere findet sich.

 

Was ist eigentlich Chaoskompetenz?

Das ist etwas ganz Tolles! Man entledigt sich aller Kontrollillusionen, beginnt, Unsicherheit auszuhalten und verbreitet Zuversicht in der Unübersichtlichkeit. Man muss es ein bisschen üben. Aber am Ende gilt stets, was mein alter Freund Mr. Spock immer sagt: Das Universum entwickelt sich so, wie es soll. Eine exzellente Methode, Chaoskompetenz zu erlernen, ist übrigens, ein Buch zu schreiben oder ein Magazin zu machen.

 

 

Es gibt Menschen, die leben und solche, die aus dem Leben ein Projekt machen … Ich liebe Deine persönlichen, pointierten Noten zum Thema Selfempowerment und Effizienz im „digitalen Zeitalter“

Danke sehr! Wir vergessen ja leicht, dass die mittlerweile ins Groteske kippenden Effizienzdelirien auch Grundlagen haben, die tief in einigen Zügen europäischer Kultur verwurzelt sind. Auf der Basis gewisser Frömmigkeitsideologien hat sich ein Moralgefüge herausgebildet, das für die meisten Menschen einfach nur unheilvoll ist. Ein gutes Gegengift übrigens: Aylyak mal wieder …

 

Du planst einen Podcast, habe ich gehört? …

Das tue ich. Darin wird es – wie in meinem Blog – ums Bücher schreiben gehen. Ich verrate Sprachgeheimnisse und ermutige die Zögerlichen, lieber heute als morgen mit dem Schreiben zu beginnen.

 

Zu Besuch bei Wolfgang Crom, Leiter der Kartenabteilung der Staatsbibliothek Unter den Linden

 

Du hast selbst schon ein Dutzend Bücher geschrieben und bringst anderen Menschen bei, wie man Bücher schreibt. Was für Bücher?

Über Apfel und Bienen, ferne Welten, Blicke hinter alle möglichen Kulissen, Gesundheit und Wohlbefinden, unbekannte Galaxien, Lebenskunst, Technik leicht gemacht, Flanerie und Muße, Garten mal anders, Werkstattgeschichten, Erklärung und Aufklärung, Küchengeheimnisse aus aller Welt, Schreiben natürlich – mit anderen Worten: Sachbücher.

 

 

Du mochtest es schon immer schön bunt, ha, das haben wir auch gemeinsam! Auf Deiner Website schreibst Du, dass Du „cooles Design“ leid bist und dass Du schwarze Markisen und graue Blumentöpfe für eine tief verschattete Geistesgestörtheit hältst … Finde ich sehr sympathisch!

Danke Dir! Ich habe einfach schon zu viel Selbstverwirklichungs-Design gesehen von Leuten, die viel über Form wissen, aber nichts über Substanz. Und die überall aufkommenden schwarzen Löcher im Stadtbild grausen mich zutiefst.

 

Die Zukunftsvision für Dein Business?

Mehr Bücher, Massen an freundlicher Kundschaft, der Ausbau zum Weltkonzern, vor allem aber originelle und fruchtbare Kooperationen. Tatsächlich sehe ich gerade jetzt die Zukunft in der Zusammenarbeit unserer vielen kleinen buntkarierten Weltkonzerne – im Geiste kreativer Subversion für Reichtum und Berühmtheit 🙂

 

Deine Definition für:

  • Glück: Frei nach Heinrich Heine: Der Sinn des Menschen ist der Mensch. Außerdem gutes Essen, eine Zigarette danach, ein Garten und eine gute Bibliothek
  • Freiheit: Bequem zwischen allen Stühlen sitzen
  • Liebe: Stille Verlässlichkeit mit gelegentlichem Theaterdonner

 

Vielen Dank für dieses Interview, liebe Susanne!

Ich habe zu danken – es war mir ein Vergnügen!

 

Susanne Weiss (in der Mitte) beim Zufallssalon von PAULINA’S FRIENDS: www.paulinasfriends.com/zufallssalon